Niyama – Zurückhaltungen nach innen, Umgang mit sich selbst

Niyama – das sind die Zurückhaltungen nach innen, der für andere unsichtbare Umgang mit sich selbst. Patanjali gliedert dies in Vers 32, II auch in fünf Punkte: : Sauberkeit (Saucha), Zufriedenheit (Santosa), Empfindsamkeit spüren (Tapas), Das Selbst studieren (Svadhyaya) und Hingabe an Deinen Gott (Isvara pranidhana). Das macht die stille Achtung vor sich selbst aus (Niyama) und ist Ausdruck des eigenen Bewusstseins. Er beginnt mit sauca, der Reinheit – wobei man ahnt, dass es sich wahrscheinlich nicht nur um die äußere Reinheit des Körpers handelt.

1. Sauca – Reinheit

Das Bedürfnis nach äußerlicher Sauberkeit und Hygiene von Körper und Kleidung ist wahrscheinlich für jeden von uns selbstverständlich (leider ist dies noch nicht allen Menschen möglich…). Darüber hinaus sind sicher auch die Reinheit des Hauses, der Wohnung, des Schreibtisches usw. gemeint. Darüber muss man hier wohl nicht weiter sprechen.
Wie steht es aber mit der inneren Reinheit und was ist damit gemeint? Ich verstehe Patanjali und die Niyama hier so, dass er die physiologische Reinheit des Körpers meint und nicht eine weitergehende Reinheit von Geist oder Seele. Dies ist meiner Meinung nach in anderen Sutra abgedeckt. Vielleicht schließt sauca die bewusste Wachheit dahingehend ein, welche Inhalte wir mit unseren Sinnen aufnehmen und was wir und damit zumuten. Über das Fernsehen, über Gespräche, über den Kontakt mit Menschen und Dingen.

Das Üben der asanas und pranayama ist ein zentraler Beitrag für sauca, da auf beides dazu beiträgt, den Körper in seinen natürlichen Reinigungsprozessen zu unterstützen. Fasten ist darüber hinaus ein sehr geeignetes Mittel, um den Körper zu entlasten und zu entschlacken. Gleiches gilt für das intensive Spülen von Magen und Darm mit Salzwasser (shankhaprakshalana). Und es ist naheliegend, dass mit sauca auch die richtige Nahrung gemeint ist, die wir mit der richtigen Einstellung zu uns nehmen (vegetarisch).

Reinheit meint also im Wesentlichen die Reinheit des Körpers. Außen wie innen. Innen meint mit Bezug auf die angestrebte Bewusstwerdung das Freisein von Giften, Ablagerungen, Schleimen usw., die unsere Übungspraxis erschweren und die Wahrnehmung von uns selbst beeinträchtigen und behindern würden.

Ein weiterer entscheidender Gedanke in Bezug auf die Definition von asana kommt von seinen etymologischen Wurzeln. Das Wort asana ist von der Wurzel as bhuvi  abgeleitet, was "sein" bedeutet. Diese Definition ist für alle Praktizierenden von asana von Bedeutung, da sie einen Zustand des Seins und nicht eine Handlung beschreibt. (Dr. Kausthub Desikachar, The Heart of Asana, 2012, Seite 45)

Asana im Sinne der Niyama des Patanjali und des Raja Yoga meint mit stabiler Sitzhaltung sicher auch - ganz menschlich - das bequeme Sitzen, allerdings wohl mehr ein entspanntes, bewegungsloses, kontemplatives Sitzen, so dass keine aktive Kontrolle mehr durch den Geist erforderlich ist.

Im Raja Yoga geht es im Schwerpunkt um die Erweiterung des Bewusstseins – allerdings weniger über körperliche Mittel und Methoden, sondern durch die willentliche Kontrolle der Aktivitäten des Verstandes und allmählicher bewusster Steuerung der citta-vrttis. Im Prinzip es darum, alle Störungen, die vom Körper und Geist ausgehen, zu vermeiden oder zu unterdrücken. Das Üben von asana in Sinne der Hatha Yoga Pradipika verfolgte im Raja Yoga nur ein klares Ziel: den Körper kräftigen, gesund erhalten usw., damit er die Psyche möglichst wenig beeinflusst! Die koshas sind nach der Yoga Philosophie "Hüllen", die wir durch unsere Yoga-Praxis "reinigen" wollen.

2. Samtosa – Zufriedenheit

Zufriedenheit ist das Ergebnis von Güte, Wohlwollen, Freundlichkeit und Mitgefühl (nicht Mitleid), aber auch von Freude und Heiterkeit. Zumindest sind das bzgl. der Niyama gute Voraussetzungen für ein zufriedenes Lebensgefühl und Gleichmut in Bezug auf die Höhen und Tiefen bei sich selbst.

Das Leben ist so vielfältig und die Sichtweise der Menschen kann so unterschiedlich sein! Toleranz wäre vielleicht im Rahmen der Niyama das passende Stichwort. Das "Darüber hinwegsehen können" und „Fünf gerade sein lassen“.

Zufriedenheit - diese Regel erinnert uns meines Erachtens direkt an zwei Dinge: erstens daran, dass alles vergänglich ist und wir nichts Materielles mitnehmen können und zweitens daran, dass wir alle einmalig, vollständig und richtig sind, wie wir sind. Das im Alltag „selbst-bewusst“ zu leben, ist allerdings leichter gesagt, als getan! Wenn wir uns selbst mit allem, was und wie es ist, als vollkommen richtig annehmen könnten, dann wäre in jeder Minute unseres Lebens immer alles gesagt und getan. Es gäbe nichts zu tun! Nichts zu wollen… Nichts zu erreichen… Das hat nichts mit Naivität, Lethargie oder Altruismus zu tun. Aus einer Zufriedenheit heraus wahrzunehmen, zu fühlen, zu denken und dann bewusst handeln, bringt sicher nicht nur im Rahmen der Niyama andere Ergebnisse hervor, als aus einer Unzufriedenheit heraus zu reagieren.

3. Tapas, 4. Svadhyaya, 5. Isvara pranidhana (Teile des Kriya Yoga)

Kriya heißt Tat, Handlung. Kriya Yoga sind demnach Handlungen, die den Geist zur Ruhe bringen. Yoga ist yogaś citta vṛtti nirodhaḥ (Das zur Ruhe kommen der Gedanken im Geiste.). Es geht also in Bezug auf die Niyama nun um das Bemühen, das bisher Gesagte in eine bewusste Tat umzusetzen, zu leben, in den Alltag zu integrieren. Yoga ist eben keine Theorie.
Tapas, svadhyaya und isvarapranidhana bilden eine Einheit. Eine Handlungseinheit. Bewusste Handlungen – kein Aktionismus. Eine Haltung, eine innere Absicht . Ein Sein. Ein Bewusstsein. Zusammen stellen sie das neue Leben dar, das man bereits ist, nun in die Tat umzusetzen. Diese drei Handlungen spiegeln Dein Wachstum auf Dein Ziel wider: die Entscheidung, Dein bisheriges Leben in dieser dualen Form mindestens zu hinterfragen oder gar vollständig loszulassen und Dein Bemühen um Verstehen und Vertrauen. Dein Wille, Dein Intellekt und Deine Emotionen sind in Vorbereitung.

Tapas kommt von tap und bedeutet erhitzen, intensiv sein. Patanjalis Sutra lösen Fragen aus. Die Art von Fragen, die das ganze Leben betreffen. Vieles, was man bisher als das Leben verstanden hat, sieht man mit etwas anderen Augen: Das Außen, die Welt da draußen macht unruhig, bringt mehr Unruhe als Ruhe in mein Leben. Und das Leben taucht auf als ein nicht enden wollendes Bemühen nach Liebe und ein permanentes Streben nach Freude und Glück. Dies hat Konsequenzen: dieses Bemühen bringt uns so allerlei Erfahrungen.

Alle Wahrnehmungen über die Sinne, alle Erfahrungen, die wir je gemacht haben, bilden zusammen ein Bündel diffuser, vergangener Eindrücke in Form von Erinnerungen samskara. Das erkennt man plötzlich. Die Muster und die innere Abhängigkeit von Mögen und Nichtmögen, Haben wollen und Nicht haben wollen. Tapas ist sozusagen die Energie, die die samskara "verbrennt", also auflöst.

Das könnte man durchaus als Askese bezeichnen: die Befreiung von Abhängigkeiten, den Prozess der inneren Befreiung. Die Vergangenheit prägt mein Sein, mein Denken, und auf diese Weise sogar meine Zukunft. Man spürt die Macht all dieser Widersprüche, Spannungen, Konflikte, Verwirrungen, die sogenannten vrttis. Und man möchte so einfach nicht mehr weiter machen.

Aus diesem Wollen erwächst eine kraftvolle Empfindsamkeit: Weg von der Identifizierung mit der eigenen Vergangenheit hin zu einem intensiven Zustand, in dem geistige Ruhe erfahrbar ist. Die Sutra zeigen ganz konkret einen Weg, wie das geht.

Was ist besonders hilfreich, damit das Bemühen nach Ruhe im Geist erfolgreich umgesetzt werden kann?: Wenn man sich selbst gut kennt und sich nicht mehr selbst dauernd auf den Leim geht. Man muss sozusagen schlauer sein als man selbst ;-).

Svadhyaya setzt sich zusammen aus sva und adhyaya und bedeutet so viel wie "das eigene Selbst kennen lernen, studieren“. Bücher sind da auf jeden Fall eine sinnvolle Quelle, genauso wie Gespräche mit kompetenten Menschen. Allerdings spielen hier auch unsere vrtti ihr Spiel und beeinflussen Auswahl von Buch und Gespräch. Und die eigene Interpretation des Gelesenen und Gehörten tun ihr Übriges.
Insofern bleibt einem nur das stetige, wache Selbst-Beobachten des reaktiven Dauer-Mechanismus Wahrnehmen Bewerten Urteilen verbunden mit der inneren Absicht nach Erkenntnis - also möglichst Deine Gedanken und Gefühle wahrnehmen ohne diese zu bewerten. Das ist eine spannende Herausforderung. Das ist svadhyaya. Man versteht die Funktionsweise von citta, dem Geist, immer besser und so verlieren die vrtti immer mehr an Kraft.

Hingabe an Deinen Gott, das ist die Bedeutung von isvarapranidhana (isvara = ista devata Deine geliebte Gottheit). Und Gott hat Patanjali definiert als einen Seinszustand, als ein "besonderes Geistwesen, das frei ist von leidvollen Spannungen, Handlungen, Ergebnissen und Erinnerungen“. Damit kann nur der Zustand gemeint sein, wenn der Geist zur Ruhe gekommen ist, oder? Das heißt, dann - in der Meditation - ist Gott erfahrbar.

Meiner Auffassung nach könnten hier in den Niyama auch so etwas wie Vertrauen in die Hingabe gemeint sein. Vertrauen in das Leben. In Dein Wachstum, im dem sämtliche Begriffe und Bilder von "Fehler" und "falsch" aufgehoben sind. Vertrauen in einen Sinn, der in allem steckt – auch wenn man diesen nicht erkennen kann. Immerhin beschreibt Patanjali dies alles im Kontext der Yama - der Zurückhaltungen nach außen, Umgang mit Anderen. Yoga - das ist der Blick nach innen, nicht eine Suche im Außen. Dies gilt auch für Gott.

Worum geht es also im Kriya Yoga? Um die Verwirklichung unseres Selbst, die Rückkehr zu Gott, zu Deinem wahren inneren Kern, Deinem Selbst, dem, was einfach Liebe ist. Yoga und Patanjali bieten uns für diese Reise nach innen spannende Methoden.

Vielleicht wirst Du diese Reise - die Veränderung Deiner ganzen Persönlichkeit - erst dann antreten, wenn Du das Leiden satt hast. Dein Leiden ist der Motor! Und die Suche nach der Antwort: Wer bin ich? Kriya Yoga ist die notwendige Voraussetzung für Deinen praktischen Yogaweg, der jetzt beginnt.