Warum soll ich Yoga machen? Kann ich das? Dies fragst du dich vielleicht. Die Antwort auf dieses "Warum" spürst du während du Yoga übst. Und das bestimmt schon beim ersten Mal. Bleibst du dabei, werden die Phasen der Ruhe und Konzentration sehr schnell länger und es gelingt dir, immer stabiler deine Aufmerksamkeit zu halten und immer tiefer deine Ruhe zu genießen. Dein Bewusstsein gewinnt gewissermaßen Oberhand.

Wenn man hier noch etwas weiterdenken möchte, kommt man nicht vorbei an Patanjali, dem indischen Gelehrten und Verfasser des ca. 2000 Jahre alten "Yoga-Sutra". Der Yoga-Sutra ist ein stark komprimierter Text und gilt als der Leitfaden des Raja Yoga (Sutra = Faden).

Meiner Vermutung nach war Patanjali nicht nur ein Gelehrter, sondern selbst ein Yogi, da er wahrscheinlich sonst nicht an das tradierte Wissen der Yogis gekommen wäre. Üblicherweise lebten die Aspiranten viele Jahre bei den weisen Yogis, die sie so mündlich und durch den gelebten Alltag in ihr Wissen über Yoga einweihten.

Aufgeschrieben wurde zu dieser Zeit eher wenig. Insofern stellen die Sutra keine theoretische Abhandlung eines Gelehrten dar, sondern spiegeln eine über Jahrhunderte mündlich überlieferte Yoga-Praxis wider. Vielleicht hat der Yogi Patanjali die Sutra einfach als "Gedankenstütze" für sich selbst notiert - in möglichst kurzer Form, einem Spickzettel gleich? Wir wissen es nicht.

Yoga ist das zur Ruhe kommen der Gedanken im Geiste.
oder
Im Zustand der Einheit sind die Bewegungen des Geistes zur Ruhe gekommen.

Dies besagt der berühmte und wichtige zweite Vers der Yoga-Sutra: yogaś citta vṛtti nirodhaḥ. Und weiter im dritten Vers: tadā draṣṭuḥ svarūpe-‚vasthānam: Dann ruht der Sehende in seinem wahren Selbst. Der vierte Vers besagt: vṛtti sārūpyam-itaratra: Ansonsten identifiziert sich der Geist mit seinen Bewegungen. Im Prinzip ist damit das Wesentliche des Yoga genannt.

Patanjali beginnt in den einzelnen Kapiteln immer mit dem Wichtigsten. Es sind rund 190 Verse, die das Warum, Wofür und Wie des Zur-Ruhe-Kommens im Detail erläutern. Hier wird auch deutlich, dass es aus Sicht des Raja Yoga um die Entwicklung und Beherrschung des Geistes geht – und das über das Mittel der Meditation. Die im Hatha Yoga im Vordergrund stehende und oben erwähnte Körperarbeit ist hierfür einzig Mittel zum Zweck: asana machen den Körper geschmeidig für das lange Sitzen in der Meditation; pranayama stärken und lenken der Fluss der Energie (prana). Die intensive Konzentration auf die Vorgänge der Atmung und die bewusst ausgeführten Atemtechniken können die Prozesse der Achtsamkeit, das Erweitern des Bewusstseins und die Erkenntnisfähigkeit deutlich beeinflussen.

Durch die bewusste Konzentration auf die Atemvorgänge bzw. die bewusste Lenkung der Atmung beruhigt sich nach und nach der Fluss der Energie (prana). Dann erlebt man an sich selbst, wie dadurch auch die Gedanken im Geist stiller werden. Und wenn die Gedanken im Geist stiller werden, wird die Fokussierung auf die Atemvorgänge noch besser möglich und tiefer - und somit der Geist noch ruhiger.

Klingt alles vielleicht etwas theoretisch. Besser du machst deine eigenen Erfahrung damit! Meine bisherige Erfahrung ist: Ich bin unruhig, wenn ich glaube, dass die Ruhe im Geist, die ich suche, aus nichts als Ruhe im Geist bestehen soll. Ruhe im Geist ist für mich ein permanentes Pendeln zwischen Ruhe und Nicht-Ruhe. Und die Ruhe entsteht im Tun, im Yoga-Praktizieren - innerhalb meines unruhigen Geistes. Ruhe entsteht im meinem Geist, wenn ich aufhöre, Ruhe erzeugen zu wollen.